
Zeit für ein anderes Wirtschaften
Was wir aus den aktuellen Krisen lernen und anders machen können
Die sozialen Ungerechtigkeiten und ökologischen Probleme, die die Corona-Krise wie eine Lupe hervorgehoben hat, sind nicht neu. Und schon lange werden grundlegende Veränderungen gefordert. Jetzt gilt es, zu erkennen, was wir lernen und anders machen sollten. Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, welche Tätigkeiten wirklich wichtig sind, um die Gesellschaft zusammen und unseren Alltag aufrecht zu erhalten: medizinische Versorgung, Pflege, Kinderbetreuung, Ernte – um nur einige Beispiele zu nennen. Und genau diese Tätigkeiten werden größtenteils schlecht oder sogar gar nicht bezahlt.
Durch die weltweite Krise sind vielen Menschen auch die globalen Lieferketten bewusster geworden. Die Arbeiter*innen am Anfang der Produktions- und Lieferketten leiden besonders unter den Folgen der Pandemie. 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im Globalen Süden haben kein Einkommen mehr, da sie als Tagelöhner* innen arbeiten und keine soziale Absicherung haben. Auch angestellte Arbeiter*innen geraten in Existenznot, da beispielsweise in Asien Bestellungen im Bekleidungssektor storniert wurden – selbst wenn die Produkte bereits fertiggestellt waren. Viele Hersteller*innen hatten dadurch Liquiditätsengpässe und konnten die Löhne ihrer Arbeiter*innen nicht bezahlen.
Wirtschafts-Stillstand zeigt ökologische Perspektiven
Der Earth Overshoot Day ist der Tag, an dem die für ein gesamtes Jahr zur Verfügung stehenden Ressourcen aufgebraucht sind. Im Jahr 2019 war der Earth Overshoot Day bereits am 29. Juli – das ganze restliche Jahr lebten wir auf Pump, auf Kosten kommender Generationen. In diesem Jahr gibt es durch die Corona-Einschränkungen den Effekt, dass der Welterschöpfungstag erst später stattfand, nämlich am 22. August. Dies zeigt, dass konkrete Maßnahmen wie die Reduzierung des Flugverkehrs auch konkrete positive Folgen haben können.
Paradigmenwechsel notwendig
In vielen Köpfen und Herzen haben sich bestimmte Normen eingeschrieben, die ein Weiter-So, Wettbewerb und Unterdrückung aufrechterhalten. Und so erscheinen uns die ungerechten Zusammenhänge unserer Welt häufig alternativlos. Doch diese Ordnung ist weder naturgegeben noch allmächtig. Nicht nur in der Theorie, sondern auch im Hier und Jetzt gibt es bereits Ansätze, die zeigen, wie ein gutes Leben und Wirtschaften aussehen kann, das nicht auf Kosten anderer geht. Um unsere Lebensweise zu verändern, braucht es den kritischen Blick auf die Mechanismen unserer Gesellschaft, aber auch die Offenheit gegenüber alternativen Gegenentwürfen. Lasst uns aus der Krise lernen und gemeinsam andere Wege gehen – individuell wie kollektiv.
Was eine andere Wirtschaft (nicht) braucht
Eine zukunftsfähige Wirtschaft muss sich unbedingt an den planetaren Grenzen orientieren. Denn bereits seit 1972 wissen wir durch den Bericht an den Club of Rome „Grenzen des Wachstums“: Auf einem endlichen Planeten ist kein unendliches Wachstum möglich. „Immer weiter, schneller, höher“ ist nicht zukunftsfähig. Eine andere Wirtschaft sollte zudem dem Prinzip Kooperation statt Konkurrenz folgen, um die Probleme unserer Zeit gemeinsam zu lösen. Außerdem sollte sich die Produktion von Gütern und Dienstleistungen am realen Bedarf orientieren, um so Überproduktionen zu vermeiden, die beispielsweise durch staatliche Subventionen entstehen.
Eine zukunftsfähige Wirtschaft ist eine, die nicht auf Kosten anderer fußt. Und wir brauchen eine andere Haltung, in der Menschen, Tiere und Natur nicht als Ware im Streben nach Profit gehandelt werden, sondern deren gegenseitige Abhängigkeit und leistungsfreier Selbstwert anerkannt werden.
Fragend schreiten wir voran.
Alternative Wirtschaft konkret
Alternative Ökonom*innen arbeiten an verschiedenen Initiativen. Manche dieser alternativen Ansätze sind klein und lokal, andere sind global vernetzt. Sie setzen auf Gemeinschaftlichkeit und Kooperation und stellen Menschenwürde, Basisdemokratie, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit an erste Stelle. Drei Ansätze des Netzwerk Oekonomischer Wandel (NOW) werden hier vorgestellt:
Degrowth/Postwachstum beschreibt einen Weg hin zu Formen des Wirtschaftens und der gesellschaftlichen (Selbst-)Organisation, die das gute Leben für alle zum Ziel hat. Es ist ein Konzept des Globalen Nordens, mit den Problemen umzugehen, die unsere kapitalistische Produktionsweise mit ihren Wachstums-, Wettbewerbs- und Profitzwängen hervorgerufen hat. Ein Ansatz ist beispielweise, nur solche Produkte herzustellen bzw. nachzufragen, die lange halten oder gut zu reparieren sind.
Commons sind Produkte oder Ressourcen, die gemeinsam hergestellt, genutzt und verwaltet werden. Dieses selbstorganisierte Wirtschaften findet beispielsweise bei der Lebensmittelproduktion in Form der Solidarischen Landwirtschaft (Solawi) statt. Hierbei übernehmen mehrere private Haushalte die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs, wofür sie im Gegenzug dessen Ernteertrag erhalten. Ein anderes Beispiel ist die Lösung von Transportproblemen, bei der Bürger*innenbusse es auch Menschen auf dem Land ermöglichen, auf das eigene Auto zu verzichten. Commons werden „jenseits von Markt und Staat“ verortet.
Solidarische Ökonomie bedeutet, Kooperation statt Konkurrenz zu praktizieren und Sinn vor Gewinn zu stellen. Dies geschieht möglichst ökologisch, diskriminierungsfrei und global gerecht. Hier findet sich der Kerngedanke des Fairen Handels und der Weltläden wieder. Der Faire Handel setzt sich seit nunmehr 50 Jahren für mehr Gerechtigkeit im internationalen Handel ein. Er stellt den Menschen und das Gemeinwohl in den Mittelpunkt, nicht den Profit.
Wer mehr erfahren möchte, kann hier gerne weiterlesen: netzwerk-oekonomischer-wandel.org.
Tobi Rosswog
Drei Prinzipien, um eine andere Wirtschaft zu unterstützen
Es gibt verschiedene persönliche Konzepte, die ein anderes Wirtschaften unterstützen. Hierbei wird entweder die Nachfrage- oder die Angebotsseite hinterfragt bzw. verändert.
Suffizienz: Was brauche ich eigentlich wirklich? Wenn ich weniger Dinge besitze, muss ich auch weniger Geld verdienen und habe mehr Zeit für anderes. Durch diesen Freiraum kann ich mich auf die Suche danach begeben, was ich wirklich in die Gesellschaft einbringen mag. Was ist mein Talent, meine Berufung, mein Potential?
Sharing: Was kann ich teilen? Was ist sowieso schon vorhanden und kann genutzt werden? Umsonstläden, Kleidertauschpartys, Foodsharing oder andere Strukturen des Teilens lassen Wege in ein neues Miteinander erproben.
Subsistenz: Was kann ich beitragen? Die Idee ist, dass wir wieder vieles selber in die Hand nehmen, uns jenseits von Markt und Staat gemeinsam organisieren. Wir werden tätig und organisieren Ernährung, Energie, Pflege und viele andere lebensnotwendige Dinge in einer Form der Selbstversorgung.
Zum Weiterlesen: Buch „AFTER WORK – Radikale Ideen für eine Gesellschaft jenseits der Arbeit“ von Tobi Rosswog
ZUR PERSON
Als Aktivist, freier Dozent und Autor setzt sich Tobi Rosswog für ein anderes Wirtschaften jenseits von Arbeit, Eigentum, Geld und Tauschlogik ein. In jährlich rund 150 Vorträgen lädt er zum Perspektivwechsel ein. Unter anderem initiierte er die Bewegung living utopia, das BildungsKollektiv imago und utopische Freiräume mit, um diese Ideen praktisch erfahrbar zu machen.