
Interview mit Jean Ziegler

Jean Ziegler, 83, ist Schweizer Soziologe, Buchautor und emeritierter Professor der Universität Genf. Von 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. In seinen Büchern und Interviews findet der Globalisierungskritiker klare Worte. Sein aktuelles autobiographisches Buch trägt den Titel „Der schmale Grat der Hoffnung“, Verlag C. Bertelsmann.
Seit vielen Jahrzehnten kämpfen Sie gegen Hunger, Armut und Menschenrechtsverletzungen in der Welt. Was ist Ihre Motivation und auch Ihre Hoffnung, immer noch so aktiv zu sein?
Wenn man einmal hungernde oder verhungerte Kinder gesehen hat, dann vergisst man das nicht. Sobald man kämpfen kann, muss man das tun. Dazu kommt, dass ich glaube, dass das Leben einen Sinn hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich durch einen reinen Zufall da bin.
Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder an den Folgen. Der World Food Report sagt, dass eine Milliarde Menschen unterernährt sind. Der gleiche Bericht sagt, dass die Landwirtschaft, wie sie heute ist, problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Es geht nicht um einen objektiven Mangel, um fehlende Produktion, sondern um den fehlenden Zugang zu Nahrung, der fehlenden Kaufkraft und so weiter. Das ist die Evidenz.
Immer mehr Menschen, vor allem die planetarische Zivilgesellschaft, die sozialen Bewegungen, wollen diese Welt nicht mehr akzeptieren, in der alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, das eigentlich ermordet wird. Es gibt keine Fatalität.
Wie können aus Ihrer Sicht die Hungerursachen bekämpft werden?
Der Hunger kann morgen früh in der Demokratie gestoppt werden, wenn die Menschen erwachen. Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln treibt deren Preise in die Höhe. Die Frankfurter Börse funktioniert nicht im rechtsfreien Raum, sie hat ein Börsengesetz. Ein Artikel mehr „Börsengeschäfte mit Grundnahrungsmitteln sind verboten“ und Millionen Menschen wären innerhalb von zwei bis drei Monaten gerettet.
Die Agrarminister*innen der EU kommen alle drei Monate zusammen und wir könnten den deutschen Agrarminister zwingen, dass er für die Aufhebung des Agrardumpings auf den Märkten in sogenannten Entwicklungsländern stimmt und Millionen wären gerettet.
Der deutsche Finanzminister ist nicht vom Himmel gefallen, sondern regiert durch Delegation des souveränen Volkes, und wir könnten ihn zwingen, wenn er im September zur Generalversammlung des Weltagrarforums reist, einmal nicht für die Gläubigerbanken zu stimmen, sondern für die sterbenden Kinder – das heißt für die Total-Entschuldung der 50 ärmsten Länder der südlichen Hemisphäre.
Das können wir und alles, was wir brauchen, ist einen Aufstand des Gewissens. Unser Gewissen ist total entfremdet durch die neoliberale Wahnidee. Die sagt, dass Marktkräfte nur Naturgesetzen gehorchen und nicht mehr menschlichem Willen. Alles, was wir tun können, sei, uns diesen Marktkräften zu unterwerfen. Die Selbstlähmung, die uns durch die neoliberale Wahnidee eingetrichtert wird, die bis in die Linke zur Entfremdung führt, die muss gebrochen werden. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie.
Wie können der Faire Handel und die Weltläden dazu beitragen, diese Selbstlähmung zu brechen?
Alternativen aufzeigen. Zeigen, dass Handelsbeziehungen hergestellt werden können, bei der der nicaraguanische Bauer, der Honig produziert, überleben und das Gebrauchsinteresse hier befriedigt werden kann. Das ist möglich und das wird gezeigt durch die Weltläden, die Pionierleistungen erbracht haben. Auch wenn viele Frauen und Männer noch immer in den konventionellen Ladenketten einkaufen: Die exemplarische Ausstrahlung der Weltläden ist absolut
wichtig. Sie ist entscheidend wichtig: Weltläden zeigen, dass die Bürger*innen die Welt verändern können, jede*r einzelne.
Die exemplarische Ausstrahlung der Weltläden ist absolut wichtig. Weltläden zeigen, dass die Bürger*innen die Welt verändern können, jede*r einzelne.
Was kann jede*r Einzelne*r konkret im Alltag tun?
Es gibt zwei Sachen, die jede*r Einzelne*r tun kann und muss: Durch das Konsumverhalten können wir die kannibalistische Weltordnung angreifen und stören: Zum Beispiel keine gentechnisch veränderten Nahrungsmittel kaufen. Sie sind ja durch das Vorsichtsprinzip in der EU deklariert, in Amerika gibt es das nicht; saisonale Lebensmittel kaufen, zum Beispiel Trauben aus Chile im Dezember ist eine Absurdität; in Weltläden einkaufen.
Und dann aber als Staatsbürger*in komplementär gegen die unterdrückenden Strukturen vorgehen: Börsengesetz revidieren, Totalentschuldung der ärmsten Länder durchsetzen und so weiter. Das Grundgesetz gibt uns ja alle Waffen, sogar bis zum Generalstreik. Wir müssen uns nur bücken, sie aufheben und gebrauchen.
Im Fairen Handel haben wir zwei Hauptziele: Erstens, durch politischen Wandel eine gerechte Welthandelsordnung schaffen. Zweitens, faire Handelspartnerschaften anstreben und Produkte konsumieren, die unter fairen Bedingungen hergestellt wurden. Wie bewerten Sie die beiden Ziele, sind sie für Sie gleichwertig?
Beides gehört zusammen, es gibt eine Totalität. Die Macht der Konsument*innen muss zu Strukturveränderungen gebraucht werden. Ich wiederhole: Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Für mich ist Deutschland die lebendigste Demokratie dieses Kontinents, die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Wenn die Öffentlichkeit aufsteht, dann wird etwas passieren. Und die politischen Strukturreformen sind komplementär, es gibt kein entweder oder. Es gehört zusammen.
Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Und Risse entstehen überall: Bewegungen wie attac, Via Campesina, die Frauenbewegungen, amnesty, der Faire Handel – die planetarische Zivilgesellschaft ist keine Partei, hat keine Parteilinie, kein Einheitsprogramm. Da kämpfen ganz verschiedene Menschen an ganz verschiedenen Stellen gegen die kannibalistische Weltordnung. Aber der einzige Motor ist der kategorische Imperativ, der zubetoniert ist durch die neoliberale Wahnidee.
Aber irgendwo ist noch die Glut da. Immanuel Kant hat gesagt: „Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“ Punkt. Das macht, dass die Leute aufstehen und kämpfen und ein Riss nach dem anderen entsteht. Und eines Tages bricht diese kannibalistische Weltordnung zusammen.
Das Wissen der Menschen in Deutschland und Europa ist oftmals vorhanden, was Ungerechtigkeiten in der Welt angeht, doch wie kann eine Verhaltensänderung erreicht werden?
Wir haben heute den Vorteil, dass die Informationen globalisiert werden. Das war vor 100 Jahren noch nicht der Fall. Was den Kindern im Südsudan jetzt zustößt, das weiß jeder. Wir müssen die Lügentheorie des neoliberalen Kapitalismus durch Bildungs- und Aufklärungsarbeit entlarven und den Menschen sagen, dass die Ungleichheit beispielsweise etwas mit den Kapitalbewegungen zu tun hat, sagen wer verantwortlich ist.
Jean-Paul Sartre hat gesagt: „Der Mensch ist, was er tut.“ Man muss die Entfremdung durchbrechen und dann zeigen, warum es keine Ohnmacht in der Demokratie gibt. Zeigen, was gegen die unterdrückenden Strukturen zu tun ist. Und was nachher kommt, ist das Mysterium der befreiten Freiheit des Menschen.
Zum Weiterlesen: Jean Ziegler: „Der schmale Grat der Hoffnung“, Verlag C. Bertelsmann, 2017