
Der lange Weg zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen
Autor: Christoph Albuschkat
Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) müssen weltweit rund 150 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren arbeiten. Sie schuften vor allem in der Landwirtschaft, aber auch im Dienstleistungsbereich, zum Beispiel als Hausangestellte, und im industriellen Sektor, etwa in Minen. Ungefähr die Hälfte dieser Kinder verrichtet gesundheitsgefährdende Tätigkeiten. Rund 40 Millionen Menschen werden als moderne Sklav*innen ausgebeutet – sogar in Europa, wenn man beispielsweise an die Arbeitsbedingungen von Migrant*innen im Obst- und Gemüseanbau in einigen Regionen Südeuropas denkt. Und mehr als 760 Millionen Menschen weltweit leben in extremer Armut – viele davon trotz harter Arbeit, die kaum zum Überleben reicht. Die Corona-Pandemie hat uns einmal mehr vor Augen geführt, dass auch in Deutschland Jobs bei Paketdiensten oder in Schlachthöfen an Ausbeutung grenzen und viele Beschäftigte in sozialen Berufen nicht die Wertschätzung bekommen, die sie verdienen.
Die Gründe für diese Missstände sind vielfältig. Ein wichtiger Faktor sind ungleiche Machtkonstellationen – sowohl zwischen Unternehmen in internationalen Lieferketten, aber auch im Verhältnis zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen. Die ausweglose Situation vieler Arbeitnehmer*innen und Tagelöhner*innen, die aufgrund ihrer Armut oder der vermeintlichen Rechtlosigkeit von Migrant*innen ohne Papiere jede Arbeit annehmen müssen, spielt dabei eine große Rolle. Schließlich kann sich auch unser Konsumverhalten auf die Arbeitsbedingungen auswirken, wenn uns niedrige Preise wichtiger sind als eine faire Produktion.
Was macht menschenwürdige Arbeitsbedingungen aus?
Eine allgemeingültige Definition, was menschenwürdige Arbeitsbedingungen sind, gibt es nicht. Vielmehr umreißen verschiedene Erklärungen und Abkommen der internationalen Staatengemeinschaft, welche Rechte erfüllt sein müssen, um ebensolche Arbeitsbedingungen zu erreichen. So beinhaltet die 1948 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte u.a. das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen, auf gerechte Entlohnung, die eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit sowie auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit.
Die ILO bezeichnet menschenwürdige Arbeit als einen entscheidenden Faktor für die Bekämpfung der Armut und für eine gerechte Gestaltung der Globalisierung. Sie hat acht Kernarbeitsnormen verabschiedet, in denen grundlegende Arbeitsrechte definiert sind wie zum Beispiel die Abschaffung der ausbeuterischen Kinder- und Zwangsarbeit, die Vereinigungsfreiheit, das Verbot der Diskriminierung sowie der Grundsatz, dass für gleiche Arbeit die gleiche Entlohnung zu zahlen ist.
Obwohl diese Kernarbeitsnormen von 140 aller 193 Staaten weltweit ratifiziert wurden und somit rechtlich bindend sind, wird tagtäglich gegen sie verstoßen.
Auch die Nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, kurz SDG), die 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden, nehmen den Faktor Arbeit in den Blick. Das achte der insgesamt 17 Ziele fordert unter anderem, menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum für alle zu fördern.
Der Faire Handel stellt den Mensch in den Mittelpunkt
Auch der Faire Handel bezieht sich auf die Kernarbeitsnormen der ILO, aber er geht einige Schritte weiter. Denn die Philosophie des Fairen Handels besteht nicht darin, „nur“ die schlimmsten Auswüchse menschenunwürdiger Arbeit zu unterbinden. Stattdessen geht es darum, den Menschen am Anfang der Lieferketten auf Augenhöhe zu begegnen und die Regeln des Handels so zu gestalten, dass auch ihnen ein selbstbestimmtes Leben und Arbeiten in Würde möglich ist. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Faire Handel im Laufe seiner 50-jährigen Geschichte ein breites Instrumentarium entwickelt. Dazu zählen zum Beispiel:
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1.
Höhere und verlässliche Einkommen
Der Faire Handel sorgt unter anderem mit Mindestpreisen für bestimmte Produkte, einer zusätzlichen Fair-Trade-Prämie, Vorauszahlungen und einer gemeinsamen Preisfestsetzung zwischen den Handelspartnern für höhere und verlässliche Einkommen für die Produzent*innen.
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2.
Transparenz
Die Lieferketten des Fairen Handels sind transparent, so dass Waren bis zu den einzelnen Produzent*innen zurückverfolgt werden können. Dadurch können Missstände im Produktionsprozess erkannt und beseitigt werden.
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3.
Langfristige Zusammenarbeit
Faire Handelsbeziehungen sind gekennzeichnet durch ihre Langfristigkeit. So entstehen Vertrauen und Planungssicherheit, die für alle Beteiligten wichtig sind. Langfristigkeit bedeutet auch, dass die Handelspartner gemeinsam durch Krisen gehen. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass der Faire Handel ein solidarisches Miteinander lebt.
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4.
Geschlechtergerechtigkeit
Der Faire Handel setzt sich dafür ein, politische, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Menschen aller geschlechtlichen Identitäten die gleichen Chancen haben, ihre Potentiale zu entfalten. Dazu gehören zum Beispiel Fortbildungen zum Thema Geschlechtergerechtigkeit.
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5.
Sicherung der Rechte von Kindern
Ausbeuterische Kinderarbeit ist im Fairen Handel streng verboten. Stattdessen trägt der Faire Handel dazu bei, dass Kinder ihr Recht auf Kindheit und auf Bildung wahrnehmen können – zum Beispiel durch Investitionen in das Bildungswesen und höhere Erlöse für die Arbeit ihrer Eltern, so dass diese nicht auf die Mitarbeit ihrer Kinder angewiesen sind.
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6.
Politische Arbeit
Neben den konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Produzent*innen setzt sich der Faire Handel für strukturelle Veränderungen auf verschiedenen politischen Ebenen ein. So sollen Regeln für den Welthandel gerechter gestaltet und menschenwürdige Arbeitsbedingungen für alle Menschen umgesetzt werden.
Auch der Faire Handel steht vor Herausforderungen
Der Faire Handel ist eine Erfolgsgeschichte. Für rund 2,5 Millionen Kleinproduzierende und ihre Familien und Gemeinschaften schafft der Faire Handel konkrete Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen. Doch so wichtig diese Veränderungen für die jeweiligen Menschen sind – die Erfolge des Fairen Handels dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Breitenwirkung begrenzt ist. Und dass er mächtige Gegenspieler hat, die eher vom bestehenden System profitieren und so auf die Politik einwirken, dass die Regeln des Welthandels zu ihren Gunsten gestaltet werden. Der Widerstand großer Wirtschaftsverbände gegen ein starkes Lieferkettengesetz in den letzten Monaten und Jahren ist ein deutliches Beispiel dafür.
Hinzu kommen weitere Herausforderungen. So wird beispielsweise das Ziel, existenzsichernde Einkommen zu gewährleisten, noch nicht bei allen Handelspartnern erreicht. Denn zum einen ist es vielerorts schwierig, zu berechnen, wie hoch ein Einkommen sein müsste, um tatsächlich die Lebenshaltungskosten für sich und die Familie zu decken – einschließlich Investitionen in Bildung und Gesundheit sowie Rücklagen für Notfälle. Hinzu kommt, dass höhere Preise die Möglichkeiten der Vermarktung der Produkte weiter einschränken. Darüber hinaus sind die Handelspartner im Globalen Süden auch von der Klima-Krise und der Corona-Pandemie stark betroffen und der Faire Handel ist gefordert, Antworten zu finden.
Die Politik ist gefragt
Diese Herausforderungen machen deutlich, dass der Faire Handel menschenwürdige Arbeitsbedingungen weltweit nicht alleine
erreichen kann. Vielmehr ist die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen für den (Welt-)Handel so zu gestalten, dass menschenwürdige Arbeitsbedingungen die Regel sind und nicht nur durch freiwillige Initiativen wie den Fairen Handel erreicht werden.
In seinem Grußwort zur diesjährigen Fairen Woche ruft auch Bundesentwicklungsminister Müller dazu auf, die Probleme klar
zu benennen und zu handeln.
Wir, Unternehmen, die Zivilgesellschaften und die Politik, können und müssen noch besser und lauter werden – für Menschenrechte, ein ressourcenschonendes und nachhaltiges Wirtschaften.
Konkret fordert die Fair-Handels-Bewegung von der Politik,
- existenzsichernde Löhne und Einkommen weltweit zu fördern;
- die menschenrechtliche Sorgfalt für Unternehmen auf nationaler, EU- und UN-Ebene wirksam und verbindlich durchzusetzen;
- Handelspolitik fair zu gestalten;
- globale Klimagerechtigkeit herzustellen sowie
- soziale und ökologische Kriterien zum Standard bei der öffentlichen Beschaffung zu machen.
Dass die Instrumente des Fairen Handels wirken, zeigen sie seit 50 Jahren. Sie können der Politik somit als Leitlinien dienen, wie gerechtere Regeln für den Welthandel aussehen können.
Der Faire Handel lädt ein, mitzugestalten
Wie möchten Sie in Zukunft arbeiten? Was gehört für Sie zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen dazu? Welche Möglichkeiten haben Sie, darauf Einfluss zu nehmen?
Neben Politik und Wirtschaft sind alle Menschen gefragt, ihre Handlungsmöglichkeiten zu entdecken und wahrzunehmen – als Verbraucher*innen, aber gerade auch als Bürger*innen. Durch unsere täglichen Konsumentscheidungen, aber auch durch unser politisches und bürgerschaftliches Engagement, haben wir zahlreiche Möglichkeiten, Lieferketten und politische Rahmenbedingungen mitzugestalten. Der Faire Handel und die Weltläden bieten hier viele Optionen: tolle Produkte, interessante Veranstaltungen und zahlreiche Möglichkeiten, sich einzubringen und die eigene politische Stimme zu erheben.
Die Faire Woche, die größte Aktionswoche des Fairen Handels, bietet viele Gelegenheiten, den Fairen Handel kennenzulernen und mehr über seine Hintergründe zu erfahren. In diesem Jahr stellt die Faire Woche das Thema der menschenwürdigen Arbeitsbedingungen in den Fokus. Unter dem Motto „Zukunft fair gestalten“ finden vom 10. bis 24. September mehr als 1.500 Veranstaltungen bundesweit statt – von Produktverkostungen über Vorträge bis hin zu Stadtrallyes für Zukunftsgestalter*innen. Seien Sie dabei!

ZUR PERSON
Christoph Albuschkat arbeitet seit 1999 beim Weltladen-Dachverband und ist unter anderem für die Faire Woche und Öffentlichkeitsarbeit zuständig.